IDX

Editorial
[0D]

Als ich mich im Frühjahr 2020 immer mehr mit Schlangen befasste, wunderte sich keine:r darüber, dass ich es tat. Vielmehr fragten mich die Leute, woher meine plötzliche Faszination käme. So genau weiß ich das nicht mehr. Doch erschreckend schien meine Antwort anzukommen: »Ich hasse Schlangen!«

Eigentlich hatte ich schon immer eine fürchterliche Panik vor allem, was sich autonom und unberechenbar schlängelte oder mich in dieser sonderlichen Körperhaltung starr vom Bildschirm aus betrachtete. Eine Welle des Ekels durchfuhr mich beim kürzesten Anblick. War ich ein viertel Jahrhundert lang Opfer einer unbegründeten Angst — Ophidiophobie wie ich jetzt einzuordnen weiß — schien mir 2020 die perfekte Gelegenheit zu sein, sich dieser zu stellen. Denn als die Menschen global mit Ängsten konfrontiert wurden, von denen noch niemand einmal ahnte, diese würden existieren, gab es lediglich Bedeutungsloseres zu grauen. Und als ich mich in einem kleinem Zimmer eingesperrt wiederfand; als auf jeglichen physischen Kontakt zu verzichten war; mich dabei aber nicht beklagen durfte, weil es allen mindestens genauso erging. Da konnte ich mich schon fast neurotisch mit alten Problemen beschäftigen. Ein Ablenkungsmanöver? Im Gegenteil!

Von allen Seiten umzingelte ich die Schlange. Näherte mich ihr aus jedem Winkel. Ich tat es ihr gleich. Doch ständig fand ich mich mit zugekniffenen Augen und mit einer Haut, die von einer ganzen Gänseschar hätte kommen können, vor meinen Rechercheergebnissen wieder. »Was zur Hölle soll das winzige Schlangenbild da oben in der Ecke, wenn ich bloß den Begriff Schlange in eine andere Sprache übersetzen lasse?«

Diese Ultradimension ist der exzessive Versuch die Schlange von unzähligen Perspektiven aus zu betrachten, auszuleuchten und schätzen zu lernen: Gegenstand sind Thematiken wie ihre Kunsthistorie 1D, die Schlange in Kulturen von indigen bis populär, in der Symbolik und der Mythologie 2D, oder in der Psyche 3D, von der Anatomie bis zur Architektur, der Mode und der Grafik 4D beziehungsweise all jener Schnittstellen 5D. Die immer wiederkehrende Thematik der Zwei– beziehungsweise Vielheit des Wesens selbst ist omnipräsent und ist daher essenzieller Bestandteil dieser Anthologie. Nichts scheinen die Menschen seit jeher mehr verehrt und im gleichen Maße gefürchtet zu haben.

Adrian Frutiger kennzeichnet grundlegend die Bedeutungsschwere der Schlange für die Visuelle Kommunikation:

»Die Schlange ist dasjenige Lebewesen, das mit der größtmöglichen Einfachheit dargestellt werden kann. Ein gekrümmter Strich allein, vielleicht mit einer Verdickung am Kopfende, genügt zu seiner Darstellung.« 1

Pure Körpermasse, die körperlos dargestellt werden kann. Die Schlange, die Dualität verkörpert. Doch während der Bearbeitung der Schlangenthematik wurde schnell klar, dass es sich dabei vielmehr um ein ultradimensionales Konstrukt handeln muss.

So begann eine Schlangenexpedition der anderen Art, welche nun neu durchlebt werden darf. Und noch etwas: »Ich hasse jetzt Schlangen nicht mehr ganz so!«

1 Frutiger (1989), S. 248.